Tagebuch der ukrainischen Seminarteilnehmer

Den ganzen Winter haben wir schon ungeduldig gewartet, bis endlich der März kommt und wir uns auch visuell kennenlernen und die schon lange Zeit vorher geplante Woche gemeinsam verbringen können. Bereits Ende Dezember hatte jeder Teilnehmer seine Bewerbung an die Seminarleiter des Theodor-Heuss-Kollegs eingereicht und freute spätestens seit Erhalt des positiven Bescheids auf diese eine Woche.

Einige von uns hatten sich zwar vorher bereits per E-Mail kennengelernt, doch erst in Torun sollten wir uns auch persönlich treffen. Nach einigen kleineren Schwierigkeiten traf jeder Teilnehmer zum vereinbarten Zeitpunkt in der Stadt ein und wir konnten den ersten gemeinsamen Abend in Polen verbringen. So lernten wir uns alle das erste Mal am Abend des 6. März im gemütlichen Restaurant „Ambasada“ kennen, in einer entspannten Atmosphäre und bei leckerer polnischen Küche. Sogar der Kellner versuchte sich mit uns in der Seminarsprache zu halten und bediente uns somit zum Kennenlernabend auf Deutsch.

Neben dem Essen und den kleinen Kennenlern-Spielen wurden wir in kleine Gruppen eingeteilt. Jeder einzelne versuchte als Persönlichkeit und Staatsbürger seiner Heimat seine Beziehungen zu den beiden anderen Ländern vorzustellen. Dabei ging jeder auf Fragen ein, wie: Wer bin ich? Was ist für mich das wichtigste im Leben? Was bedeuten Grenzen für mich? All die Antworten auf diese Fragen waren natürlich sehr unterschiedlich und wurden phantasiereich und humorvoll auf Plakaten skizzenhaft wiedergegeben.

Schließlich sind wir alle angenehm müde und zugleich zufrieden und gespannt auf die weiteren Seminartage in die Unterkunft zurückgekehrt.

Dienstag, 7. März 2006

Der – sozusagen – erste, volle Seminartag begann zunächst ganz nüchtern mit dem Frühstück von 8 bis 9 Uhr und ging dann in das WUP (Warming up) über. Das war dann eher eine Überraschung für die meisten, denn viele konnten sich vorher nicht vorstellen was dies bedeuten sollte. Diese Art von Morgengymnastik weckte uns jedoch besser, als alles andere. Wir sollten dabei über Erlebnisse aus unserer Kindheit berichten, die uns geprägt hatten. Das hat uns natürlich auch dabei geholfen, uns etwas besser näher kennenzulernen. Im Anschluss daran führten wir sogenannte „bewegliche Vertrauungsübungen“ durch, damit wir uns sicherer in der uns noch fremden Umgebung fühlen konnten. Schließlich kam eine Diskussion über die eigene Identität und unser Nationalbewusstsein. Diese Gespräch war ganz spontan und vereinigte Themen wie: Sitten und Bräuche, Heimatgefühl und sogar Fußball. Obwohl wir alle unterschiedliche Nationalitäten hatten, stellten wir natürlich auch viele Gemeinsamkeiten fest. Doch auch einige Unterschiede zeigten sich: war beispielsweise den Deutschen eher wichtig, als Persönlichkeit anerkannt zu werden, legten die polnischen und ukrainischen Teilnehmer mehr Wert auf das Heimatgefühl und das Nationalbewusstsein.

Nach dem Mittagessen freuten wir uns über die interessante Stadtbesichtigung. Die mittelalterliche Stadt Torun mit den vielen Kirchen und Häusern im gotischen Stil und auch viele Renaissancegebäude haben uns tief beeindruckt. Einen großen Anteil daran hatte selbstverständlich die sympathische Stadtführerin Agnieszka. Sie erzählte uns über die historischen Tatsachen und über das moderne Leben, über die Legenden und Geheimnisse den alten Kirchen und Gassen. Wir erfuhren zum Beispiel, was Kopernikus mit Torun zu tun hat und wie viele Studenten an der Kopernikusuniversität studieren. Die Stadt gehört zu den am besten und gut beleuchtetsten Städten Europas, so dass uns auch der Nachtbummel sehr begeisterte und inspirierte, obwohl wir dabei ziemlich erfroren waren. Deshalb gingen wir darauf ins Restaurant, wo wir uns bei Tee oder Kaffee und mit den leckeren Spezialitäten der Stadt etwas aufwärmten. Die Zeit dort nutzten wir für eine Unterhaltung über unsere Kulturen und wir sprachen darüber, was wir am Nachmittag alles erlebt und gesehen hatten. Ab 20 Uhr begann unser Abendprogramm mit zwei Länderpräsentationen. Zuerst war Polen an der Reihe und wir machten eine abenteuerliche Reise vom Süden in den Norden des Landes.

Wir sahen viele Bilder, schöne Ansichtskarten und erfuhren Legenden über einige polnische Städte. Dies war eine interessante und zugleich unvergessliche Vorstellung des Gastlandes. Die deutsche Gruppe ging einen anderen Weg: sie hatten für die anderen Teilnehmer ein Quiz vorbereitet: Wer weiß möglichst viel über Deutschland?

Sehr, sehr müde aber mit vielen neuen Eindrücken fielen wir schließlich in unsere Betten.

Mittwoch, 8. März 2006

Der nächste Tag war der 8. März, ein besonderer Tag vor allem für die slawischen Teilnehmerinnen – es war Frauentag! Doch es ging nicht vorrangig um die Frauen, vielmehr war dieser Seminartag der Begriffsdefinition von „Migration“ gewidmet. Wir diskutierten beispielsweise welche Vor- und Nachteile die Migration hat. Dabei hatten unsere Seminarleiter auch interessante Vorträge für uns vorbereitet, zu Themen wie das Kreuzwort „Migration“, die Push und Pulltheorie, die Arten der Migration und Zahlenbeispiele aus unseren drei Ländern. Wir beendeten den Vormittag mit einem Treffen von Michal, einem Vertreter einer NGO. Dabei erfuhren wir sehr viel über tschetschenische Flüchtlinge in Polen und darüber, wie diese vom Staat unterstützt werden. Das Gespräch mit ihm, was wir bis zum Mittagessen fortführten, gab uns viele interessante Informationen. Nach dem Essen hatten wir zwei Stunde Pause und einige Teilnehmer schafften es sogar noch das Stadtzentrum zu besichtigen und einzukaufen. Doch sie mussten sich beeilen, denn am Nachmittag wartete eine Amerikanische Debatte auf uns. Dies ist eine interessante Art der Diskussion, die nur einige Minuten dauert und bei der die Pro- und Contra-Argumente so deutlich und kurz wie nur möglich zu äußern sind. Sicherlich war dies eine der schwierigsten Aufgaben, weil sie viel Aufmerksamkeit und eine schnelle Reaktion erforderte. Nach der Auswertung wurden wir in zwei Gruppen geteilt, um in Form eines Forumtheaters zwei Theaterstücke in 30 Minuten auszudenken und dann den anderen vorzuspielen. Die erste Gruppe sollte die Situation vor einer Migration, bzw. bei der Entscheidungsfindung des Auszuwandern darstellen. Die zweite Gruppe sollte zeigen, wie könnte eine Situation nach der Migration aussehen, wie fühlen sich die Migranten in einem fremden Land und wie verhalten sich die Bewohner dieses Landes ihnen gegenüber. Alle Teilnehmer zeigten viele kreative Einfälle und so hatten beide Gruppen schöne und zugleich bemerkenswerte Theaterstücke vorbereitet, die mehrere Male vorgespielt wurden. Die Rollen konnten dabei neu besetzt werden, wobei sich dann immer verschiedene Lösungen der Problemsituation ergaben. Trotz der Problemsituationen gab es dabei natürlich auch viel zu lachen.

Am Abend stand noch die letzte der drei Länderpräsentationen aus: die Vorstellung der ukrainischen Teilnehmer und ihrer Heimat. Für mehrere der anderen Teilnehmer war es nicht das erste Kennenlernen dieses europäischen Landes. Es war eine sehr interessante und spannende Reise durch die Städte der Ukraine, mit Informationen über Kultur, Geschichte und Gegenwart. Dabei wurde viel Informationsmaterial gezeigt, viel gelacht und vor allem auch gesungen. Diese Volksliederpräsentation hat allen sehr viel Spaß bereitet.

Donnerstag, 9. März 2006

Die morgendliche Gesprächsrunde begann mit der Auswertung von dem, was wir am Vortag mit dem Forumtheater erreicht hatten. Wir diskutieren darüber, ob es leicht war die jeweilige Rolle auszuleben und wie es sich anfühlte sich als Ersatzschauspieler in die Situation der ursprünglichen Schauspieler zu versetzen. Auch sprachen wir darüber, in welchen Umfang Migration vermeidbar ist, oder ob sie einen unvermeidlichen Fakt darstellt. Auf diese Weise haben wir Konflikte, die durch Migration verursacht werden erkannt. Als nächsten Schritt versuchten wir den Traum einer perfekten Gesellschaft zu skizzieren. Mit Hilfe von bunten Papierstücken, Klebstoff, Filzstiften und Plastik bastelten und gestalteten wir alle unsere Träume auf speziellen Plakaten. Wir wollten darstellen, wie bunt, wunderschön und märchenhaft unser Traumland aussehen könnte. Ein Land in dem die Menschen ohne Geld und Gewalt leben können, wo an erster Stelle die Menschenrechte stehen, wo alle gesund sind, alle Völker den Frieden schätzen und die Liebe zur Natur.

Schließlich versuchten wir nach dem Mittagessen uns vorzustellen, wie alle diese Träume eventuell umsetzbar sind, oder was jeder Einzelne in seiner Umgebung verändern kann. Wir stellten fest, um diesem Streben gerecht zu werden, sollte ein jeder einzelne zumindest seine Gleichgültigkeit besiegen, um für jede noch so kleine Veränderung kämpfen zu können. Genau dieser wichtige Aspekt war zugleich der letzte Punkt, der mit unserem Seminarthema verbunden war.

Im Anschluss haben wir die Aufgaben zur Weiterführung der Projektarbeit verteilt. So werden einige von uns Anzeigen mit selbst erlebten Gefühlen in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen, andere sind für die Auswahl und Aufbereitung der besten Fotos der gesamten Seminarzeit zuständig. Wir, die ukrainische Gruppe (Dima, Jenja und Viki), wollen jeden erlebten Tag in Torun in Form dieses Tagebuchs festhalten und somit die gute Erinnerung an die tolle Zeit niederschreiben. Hier seht ihr das Ergebnis!

Am Abend wartete auf uns eine Abschiedsparty, die wir wirklich sehr gut verbracht haben. Zuerst besuchten wir ein türkisches Restaurant und dann ging es zum tanzen in die Disko. Nach so vielen Eindrücken und Erlebnissen fiel es allen sehr schwer einzuschlafen, waren wir doch alle mit vielen Gedanken beschäftigt. Und dass schlimmste an der Sache war, dass die Zeit so schnell verflogen war, dass unaufhaltsam der leider letzte Seminartag nahte.

Freitag, 10. März 2006

Ja, die gute Zeit vergeht leider immer wie im Fluge, so auch die Tage in Torun. Uns schien, dass all die erlebnisreichen vier Tage wie ein einziger Tag so schnell verstrichen waren. Doch am Ende ließen wir im Rahmen einer Auswertung all die Zeit noch einmal Revue passieren. Wir diskutierten zu den Fragen: Wie war es hier in Torun, was hat uns gefallen und was nicht und was können wir an Erfahrungen mit nach Hause nehmen. Schließlich waren alle begeistert, bereichert, glücklich und einige sogar verliebt. Man kann schon sagen, wir fühlten uns in diesen Tagen wie eine internationale Familie, aus denen auch echte Freundschaften geworden sind. Sicher werden viele Teilnehmer noch weit darüber hinaus Kontakte weiterpflegen und sich auch Besuchen. Entsprechende Einladungen kursierten schon. Diesen weiteren Austausch könnte man auch als Weiterleben dieser neuen internationalen Familie bezeichnen und auch die Erfahrungen die noch kommen werden, werden uns sicher im Nachhinein noch prägen.

Verbunden mit all diesen Emotionen ist sehr gut verständlich, wie schwer uns schließlich der Abschied am letzten Tag gefallen ist. Aber als Schlussbemerkung wollen wir allgemein feststellen: ES WAR EINE SUPER ZEIT UND EINE SEHR GUTE ERFAHRUNG FÜR UNS ALLE!